Hüllen und Füllen, mit Monika Feucht und Jürg Benninger 

Vernissageansprache

von Urs Sibler

Hüllen und Füllen kann als Aufforderung oder als Mehrzahl der Begriffe Hülle und Fülle gelesen werden. Jedenfalls bietet die Kornschütte im Rathaus Luzern Raum in Hülle und Fülle. Die Stadt Luzern stellt diesen Raum vom 31. Oktober bis zum 18. November 2012 den Kunstschaffenden Jürg Benninger und Monika Feucht zur Verfügung. Beiden ist das Hüllen und Füllen wie das Füllen von Hüllen aus ihrer künstlerischen Arbeit sehr vertraut. Monika Feucht zeigt grossformatige Zeichnungen von Frisuren. Die Schöpfe sind Umhüllung des Kopfes und Haarfülle zugleich. Wachsen und Wuchern bestimmt auch den wandgrossen „Wintergarten“. Jürg Benningers Porträts sind gehäkelte und bestickte Hüllen, die gestopft werden und so an Fülle gewinnen. Eine Serie von Fotoporträts enthüllt Abgründe mit über Gesichter gestülpten wollenen „Prothesen“.

Mit verschiedenen Strategien rücken die Ausstellenden der Raumfülle zu Leibe. Sie grenzen sich ab, hüllen einen Teil ihrer Werke in Container, die als Raum im Raum funktionieren. Deren Aussenwände erfüllen den Zweck als Präsentationsflächen. Sie legen aber auch Inseln im Raum. Mit dem gegebenen Steinboden verbinden sich gerollte Graphitzeichnungen von Monika Feucht, die auf die Fülle ihres Bilderlagers verweisen. Ihre Kugeln aus farbigen Stoffresten hebeln die Monumentalität des Raumes aus. Jürg Benninger lässt „Gloria und ihre Hundchen“ auftreten und „Mannsgöggel“ ausschwärmen. Benninger und Feucht zeigen ernsthaft verspielte Exponate, die mit ausdauernder Hingabe in einem aufwändigen Prozess entstanden sind. Sie scheuen die Fülle nicht, führen Besucherinnen und Besucher hinter die Hüllen in „eine bunte und humorvolle Welt. Dies heisst aber nicht, dass dort Friede, Freude und Schönheit herrscht, schon hinter der nächsten Ecke könnte ein Monster lauern“, wie es Jürg Benninger formuliert. Und Monika Feucht vergleicht ihre Kugeln mit Wunderknäueln: „Mit Süssigkeiten, eingerollt in bunter Wolle, wurde so manche zum Stricken animiert. Ich habe meine Gedanken eingewickelt, sie tragen zur Fülle bei, bleiben den Betrachtenden aber für immer verborgen. Vielleicht aber ist der Faden für weitere Gedanken gelegt.“ 

2012

Hüllen und Füllen – Philosophische Annäherung an: Hüllen und Füllen

von Lisa Schmuckli​​​​​​​

I. Was wir sehen blickt uns an

Ich betrete diesen Raum, mir fällt die erste Figur „Sacha“ von Jürg Benninger ins Auge, bald die zweite „Ingrid“, die Menschenmenge „Boygroup“.... Ich stehe in der Kammer vor den Fotos der teilmaskierten Männern, befinde mich inmitten unter ihnen und werde nun selber in den Blick genommen. Mit gemischten Empfindungen stehe ich da und bin irritiert. Etwas reizt mich. Gereizt, so dass ich (pointiert formuliert) ausser mir gerate, aufgewühlt und herausgefordert bin, neugierig werde und wissen will, was da vor sich geht, was das Kunstwerk mit mir „macht“.

Was wir sehen blickt uns an.
Der zweite Raum im Raum - ein Zimmer?, ein Atelier?, eine Fundgrube voller Erinnerungen, Ideen und Zeichen? – verführt mich, nochmals hinzuschauen, genauer zu erspähen, was die Bilder zeigen, welche Schriftzüge die Wände preisgeben, die Hüllen verstecken. Das Zimmer bewirkt, dass ich mich vergesse und verweile.
Wir sehen und wir spekulieren.

Wenn wir sehen, suchen wir uns im Sehen das heraus, was wir schon kennen, um so das eigene Sehen vor Unvorhersehbarem schonen zu können. Wir suchen uns also im Sehen das Bekannte heraus, wir wollen wiedersehen, was wir schon kennen. Aus der Erfahrung des Sehens wird auf diese Weise „eine Übung der Tautologie“, wie es der französische Philosoph Georges Didi-Huberman nennt, eine Übung, die nichts mehr sagt, als das Offensichtliche zu beschreiben. Es ist ein kontrollierendes, ein eigentlich blindes Sehen. Wenn wir auf diese Weise sehen, sehen wir – pointiert – die Hüllen. Und zwar ausschliesslich Hüllen (die Oberflächen).
Wenn wir spekulieren, gehen wir über das Sehen hinaus. Die Spekulation folgt dem Verlangen nach Sinn, das heisst: sie folgt der Neugierde, mehr Wissen zu wollen als zu sehen ist. Im Spekulieren fügen wir unbewusst mehr hinzu, als sich zeigt; wir beginnen auf eine gewisse Weise „Sinn“ zu konstruieren, vielleicht sogar eine Aussage ins Kunstwerk hineinzulegen und herauszunehmen und so für uns das Werk „sinnvoll“ zu machen und zu erschliessen. Die Schaulust treibt uns über das, was sich zeigt, hinaus; wir dichten quasi zum offensichtlichen Kunstwerk unser Eigenes an Erinnerungen, an erinnerte Bilder und Ideen hinzu. Die Spekulation folgt einem unsichtbaren Begehren, so dass das sichtbare Kunstwerk und unser unsichtbares Begehren in der Spekulation zusammentreffen. Wenn wir auf diese Weise spekulieren, beginnen wir zu füllen. Wir füllen die Hüllen.

Die Bewegung von Sehen und Spekulieren macht meinen subjektiven Wunsch sichtbar, zu erkennen und mögliche Wahrheiten zu sehen. Der Wunsch, zu erkennen, was sich zeigt – Neugier also – ähnelt der Dialektik zwischen Sehen und Spekulieren: Das was sich zeigt, will gesehen werden; was aber gesehen wird, wird bereits vom eigenen Blick entstellt und spekulativ erweitert. Die Anschauung selbst wird nämlich kontinuierlich entstellt, also kontinuierlich wird das Sichtbare mit der Spekulation erweitert und überschritten. Sehen und Spekulieren sind Formen, mit denen wir ein Kunstwerk erschliessen und Erkenntnisse auffinden wollen. Die Erkenntnis will jene Zusammenhänge zwischen Reiz und Rührung, zwischen Sehen und Spekulieren herstellen. Der Mensch aber, der erkennen will, muss erfahren, dass er selbst im Erkennen der Schaulust verfällt und kontinuierlich der Verführung des Auges erliegt. Lassen Sie es mich so zuspitzen: wer sieht und erkennt, dominiert mit dem Auge die anderen Sinne und erweitert die eigenen Wahrnehmungen ins Fiktive. Er überschreitet eine Grenze, nämlich die Grenze zwischen Sichtbaren hin zum Unsichtbaren, Phantasierte.

Und just diese Schaulust, man kann sie auch als Begehren oder als Neugier umschreiben, ist mit dem Paradox konfrontiert, dass sie nie zu einem Ende kommen kann, unersättlich und unerfüllt bleibt, und zugleich sich nur dort zeigen kann, wo sie eine Form findet, sich an konkrete Inhalte knüpfen und damit in seiner Bewegung innehält, fassbar wird. Diese Schaulust muss sich vorläufig festlegen – in einem Kunstwerk, in einem Satz, in einer Aussage – und zwar im Wissen, dass sie darin nicht aufgeht, also nach neuen Macharten, Formen, Kunstwerken, Bildern, Worten sucht.

Wenn wir also auf diese Weise sehen und erkennen wollen, dann beginnen wir, die vorhandenen Hüllen zu füllen und das Füllen ins Auge zu nehmen.​​​​​​​

II. Nahsehen und Fernsehen

Wer in eine Ausstellung geht, will wohl nahe herangehen, will quasi nahe sehen, das präsentierte Werk ins Auge nehmen und es wirken lassen. Nahsehen heisst für mich in diesem Moment: das, was sich zeigt, wahrnehmen, einen zweiten Blick riskieren und das, was mich irritiert, nicht eben gleich ausblenden. Dafür brauche ich Zeit. Ich beginne in diesem Nahsehen also zu verlangsamen.

Ich sehe, wie mich die teilmaskierten Männer ansehen. Aber wohin sieht der Mann, von dem ich nur den Hinterkopf wahrnehmen kann? Ich stehe vor dem Bild und denke: das sind Haare, gesehen unter dem Mikroskop... Eine Nahsicht in die Ferne, spukt es mir im Kopf herum.

Nahsehen und Fernsehen – wie geht das gleichzeitig?

Wir sind im Alltag gefordert, schnell hinzusehen, schnell die soziale Situation zu erfassen. Wir sind gefordert, die spontanen Wahrnehmungen sehr schnell zu einer Einschätzung zusammenzubringen und in einer Handlung umzusetzen. Wir sind also von diesem eigentlichen Hochgeschwindigkeitssehen herausgefordert.

Der Mensch, der wahrnehmen und wahrhaben will, verfügt nicht nur über Sensibilität und Aufmerksamkeit, sondern er muss auch über die Möglichkeit verfügen, sich gerade angesichts des Tempos empfindungslos zu machen, so dass er nicht permanent abgelenkt und visuell überfordert wird. Er muss sich also selber anästhesieren: er muss gezielt Empfindungen ausschalten und Wahrnehmungen ausblenden können, um in diesem rasenden Tempo handlungsfähig zu bleiben. Diese punktuelle und zeitlich befristete Empfindungslosigkeit kann auch erstarren. Der Mensch wird dann zu einem coolen, oder eben: narkotisierten Zeitgenossen. Ein Zeitgenosse oder eine Zeitgenossin, die bildervoll und fensterlos ist. Und diese fensterlosen Zeitgenossen drohen, aus den sozialen Bezügen herauszufallen, drohen gar, asozial und beziehungsstumpf zu werden.

Die Grenzen des Wahrnehmens ist mit anderen Worten die Anästhesie bzw. die Anästhetik: Durch Anästhesie schaltet man (zumindest in der Medizin) die Empfindungsfähigkeit aus.
Wer bildervoll ist und fensterlos bleibt, sieht fern. Er betreibt quasi Fernsehen. Er braucht weder Umwelt noch Wirklichkeit und schon gar keine Kunst, um sich auszutauschen; er genügt sich selbst: Er erblickt nur noch sich selbst, empfindungslos nach Aussen, weil er mit dem distanzierenden Auge die Welt von sich halten kann, und ebenso blind gegenüber seiner eigenen Panzerung. Er sieht in eine eigentliche Mattscheibe, sieht eben fern.

Wer bildervoll und fensterlos ist, wer sich empfindungslos machen muss, um überhaupt überleben zu können, wird zu einem eigentlich blinden Seher, zu einer Person, die nicht mehr in die soziale Welt hinausschaut, sondern in die eigene Welt abtaucht. Dieses Fernsehen ist in meinen Augen eine Art ‚Seelenblindheit’. Mir scheint, dass heute dieses geforderte Hochgeschwindigkeitssehen ebenso wie die täglich trainierte Effizienz, die Notwendigkeit, immer noch schneller, besser, produktiver, angepasster zu arbeiten und zu leben, dass also diese Effizienz eine Art ‚kultureller Tumor’ darstellt, die den Menschen eine Seelenblindheit zufügt und sie auf diese Weise krank werden lässt.

Fernsehen erweist sich als blindes weltabgewandtes Sehen. Nahsehen erweist sich Sehen, das die Welt ins Auge holt. Wie also hat sich Monika Feucht und Jürg Benninger ihre Welten ins Auge geholt? Was sehen sie und zeigen sie uns?
Ich wage zu behaupten: beide irritieren unsere Sehgewohnheiten. Sie stören unser Fernsehen und zwingen uns zu einem Nahsehen, sie zwingen uns, nochmals hinzusehen, das eigene Auge über ihre präsentierten Kunstwerke gleiten zu lassen, uns reizen und berühren zu lassen.
 

III. Die Kunst Maschen aufzuziehen – oder: der rote Faden der zerbrechlichen Zeit

Ich stelle mir vor, wie Monika Feucht diesen Raum aufbaut. Ihr Atelier? – Aber bevor sie ihren Raum aufbauen konnte, musste sie ihn ja an einem anderen Ort abbauen. Ihr Kunstwerk beginnt in meiner Phantasie mit einer Demontage. Ist in dieser Demontage etwas verloren gegangen? Sie rollt ihre Zeichnungen ein, ist dies auch eine Art Demontage oder eher ein Aufbewahren? Sie nennt diese aufgerollten Zeichnungen „Zeitspeicher“. Weiss sie, ob der Speicher alles auffängt und dicht hält oder gibt es ein Leck und damit auch einen Zeitverlust?

Wie viele Maschen hat wohl Jürg Benninger bei seinen Arbeiten verloren? Wie gross war sein Wollknäuel? Hat er eine seiner Figuren im Häkelprozess wieder aufgelöst, also am Faden gezogen, es aufgetrennt, nochmals von vorne begonnen?
Man kann ein Werk – so meine Spekulation – in umgekehrter Richtung machen, also auflösen: am Faden ziehen und die Figur löst sich auf, etwas Neues entsteht, nämlich ein Knäuel. Oder das Atelier abbauen und die Installation löst sich auf, etwas Neues entsteht, nämlich ein anderes Atelier in einem neuen Kontext.

Ich denke, dass in diesem Prozess des Machens und Demontierens, des Herstellens und Auflösens, eine Wahrheit verborgen liegt, die die italienische Philosophin Luisa Muraro folgendermassen thematisiert: „Um anzufangen, muss man erst einmal das Ende vom Faden finden, den verlorenen Faden sozusagen.“ Der verlorene Faden ist mal der reale Wollfaden, mal der rote Faden des eigenen Gedankens, mal der Faden, der die eigene Ideen bis hin zum konkretisierten Kunstwerk verbindet. Diesen verlorenen Faden gilt es immer wieder, von neuem zu finden, zu erfinden, aufzu- greifen und weiterzuspinnen, ohne im Voraus schon zu wissen, wohin er führt.

Wie viele Maschen hat Jürg Benninger verloren? Ich erinnere mich noch lebhaft an meine kümmerlichen Strick- und Häkelerfahrungen in der Handarbeitsschule für Mädchen (die gab es damals noch!). Es war mir jedes Mal schleierhaft – aber ich verlor Maschen. Sie blieben weg. Unauffindbar. „Wer Maschen aufzieht“, schreibt Luisa Muraro, „macht praktische Erfahrungen mit Rechnungen, die nicht aufgehen, mit rätselhaften Verlusten“.

Könnte es sein, dass das Maschen aufziehen und auflösen, dass das Auf- und Abbauen des Kunstraums eine zauberhafte, eine ästhetische Weise ist, uns eine schwierige, oftmals ausgeblendete Erfahrung versinnbildlicht, ein Rätsel des Leben selbst verständlich zu machen, nämlich die Erfahrung, dass es im eigenen Leben nie aufgeht.... Wenn die Maschen mehr und mehr zu einer Figur zusammenwachsen, dann nimmt der Knäuel ab; der Verlust des Knäuels bleibt unsichtbar, das Kunstwerk kann wachsen, es wird vollendet; und im fertigen Werk bleibt die Zeit, die das Herstellen benötigt hat, verloren und auch irgendwie präsent. Es gibt keine Gleichung; es geht nie auf... Erst jetzt entsteht ein eigentlicher Spielraum im Werk selbst.

Und hier beginnt vielleicht auch unser Spiel: Was sehen wir, wenn wir hinschauen, wenn wir uns umschauen? Wenn wir uns im Raum bewegen? Wenn wir unseren Assoziationen zu den Bildern und Installationen folgen?

Es geht nie auf.... Das löst eine notwendige Unruhe aus. „ Es gibt immer etwas, was nicht ganz passt“, notiert Luisa Muraro, „und jedes Mal stellt sich heraus, dass dieses Etwas das Wesentliche ist. Die Kritik [dass etwas fehlt, dass etwas nicht passt, ls] ist berechtigt – unter einer oder vielleicht auch zwei Bedingungen. Und zwar, dass wir es sind, die dieses Andere (es hat viele Namen: Zufall, Glück, Gott, das Unbewusste, Begehren, Anderes...) ins Spiel bringen. Ja, dieses Andere, das uns so oder so oder so werden lässt, ohne dass wir es kennen, aber auch ohne dass wir es ignorieren können.“

Es passt nicht ganz, es geht nicht ganz auf, es irritiert – und das ist der Rede wert! Das ist ein zweiter, einen weiteren Blick wert!

Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit – und jetzt ist es eben der Rede wert....

 

10.11.2012 

Verwendete Literatur:
Didi-Huberman, Georges: Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999.
Muraro, Luisa: Die Kunst, Maschen aufzuziehen/Die Menge im Herzen, Rüsselsheim 2001
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Schmuckli, Lisa: Begehren nach Bildern, Wien 2006.
 
Dies.: Passion der Differenzen, Königstein/Taunus 2007.
www.ethische-interventionen.ch

© November 2012